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Epigenetik: Wir beeinflussen unsere Gene und die anderer

Die Mechanismen des Lebens sind komplexer, als man sich das vorgestellt hat, sagt der bekannte Molekularbiologe Gottfried Schatz.

Mechanismen der Epigenetik starten vor allem mit Drogen, Alterung und je nach Essen/Lebenswandel.© Public Domain, NIH; USA

1. Vorwort

Der emeritierte Professor für Biochemie an der Universität Basel, Dr. Gottfried Schatz, ist Mitentdecker der mitochondrialen DNA. Er hatte uns schon seinen Text über den Sinn des Lebens geschenkt. Da finden Sie am Ende eine eingehende Information über seine Tätigkeit und seine Auszeichnungen für seine Verdienste.

Der Text erschien zuerst im Beobachter (https://www.beobachter.ch), die Publikation auf dieser Website erscheint mit freundlicher Genehmigung des Beobachters. Bei uns hat Ernst Erb (EE) die Arbeiten von Gottfried Schatz eingepflegt. Von EE stammen auch die Kästchenbeiträge, Verlinkungen und Auszeichnungen. Die Bilder sind ebenfalls von ihm ausgewählt. Als Autor (mit Foto) wählen wir natürlich den Erzeuger des Inhalts.

2. Das Interview: Jeder Mensch ist für seine eigenen Gene mitverantwortlich

Im Beitrag hier betont Gottfried Schatz: Die Mechanismen des Lebens sind komplexer, als man sich das vorgestellt hat. Das verlangt einen respektvolleren Umgang aller mit allen.

Thomas Buomberger für Beobachter:

Sie haben sich während Ihrer ganzen wissenschaftlichen Laufbahn mit Leben beschäftigt. Wissen Sie jetzt, was Leben ist?

Gottfried Schatz:
Nicht genau, denn es ist nicht einfach, Leben zu definieren. Die beste Definition, die sich am irdischen Leben orientiert: Leben ist ein chemisches System, das sich selbst reproduziert und durch genetische Variation und Selektion immer komplexer wird.

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Biomoleküle nennen wir auch Naturstoffe. Organismen erzeugen diese einheitlichen Stoffe um biologische Funktionen zu erfüllen. Siehe auch die organische Chemie und die metallorganische Chemie (Vitamin B12).

Beziehungsdiagramm einiger wichtiger Biomoleküle mit ihren jeweils biologischen Funktionen.© Public Domain, Hati / Sponk, Wikipedia

Wann und wie ist Leben auf der Erde entstanden?

Diese Fragen können wir noch nicht beantworten - und vielleicht werden wir sie nie beantworten können. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass sich Leben spontan aus unbelebter Materie gebildet hat, und zwar unter Bedingungen, die von den heutigen sehr verschieden waren. Die Lufthülle unseres Planeten enthielt noch kein Sauerstoffgas, die Oberfläche war sehr heiss, Meteore krachten auf sie nieder, und sie war von vielen aktiven Vulkanen bedeckt.

Diese Bedingungen förderten wahrscheinlich die Umwandlung von einfachen Molekülen wie Wasser oder Kohlendioxid zu den komplexen Molekülen (EE: Komplexchemie, Sandwichkomplexe, bioanorganische Chemie, Biologie), die wir heute als typische «Lebensmoleküle» betrachten - wie etwa Aminosäuren als Bausteine von Proteinen oder Fette als Bausteine von Membranen (EE: Zellmembran, Biomembran, Lipide, Doppellipidschicht). Diese komplexen Lebensmoleküle, die noch unbelebt waren, lagerten sich zu immer komplexeren Verbindungen zusammen, bis schliesslich eines sich fortpflanzte und seine Zusammensetzung und Wirkungsweise in Genen (Gen) niederschrieb.

Eine solche spontane Entstehung von Leben aus unbelebter Materie erscheint natürlich unendlich unwahrscheinlich. Da aber die Natur dieses Experiment über Hunderte von Millionen Jahren unendlich oft wiederholte, war schliesslich eines erfolgreich. Und es brauchte ja nur ein einziges erfolgreiches Experiment, um den Funken des Lebens zu zünden.

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Wenn Sie das Thema "Entstehung des Lebens auf der Erde" interessiert, klicken Sie auf den Beitrag "Der Sinn des Lebens, Naturwissenschaft und Glaube-Religion". Da hat Gottfried Schatz das Thema spannend beschrieben.

Siehe auch die weiteren Ausführungen bei Wikipedia über: chemische Evolution, Urvorfahr und die überholte Theorie der Spontanzeugung aus der Antike.

Ein Bild der Cartwheel Galaxy, aufgenommen mit dem Hubble Space Telescope der NASA / ESA.© Public Domain, ESA/Hubble & NASA, Wikipedia

Wenn wir von Lebewesen sprechen, denken wir in Rangordnungen: zuunterst die Bakterien, zuoberst der Mensch als «Krone der Schöpfung». Ist das gerechtfertigt?

Ja, aber nur wenn wir aus dieser Hierarchie keine Wert- oder Machtansprüche ableiten. Als Molekularbiologe steht für mich ein Lebewesen in der Hierarchie des Lebens umso höher, je komplexer es aufgebaut ist. Komplexität ist ein Mass für die Menge an Informationen, die es braucht, um ein Objekt zu beschreiben. Es braucht sehr viel weniger Information, um ein Bakterium chemisch präzise zu beschreiben als einen Delfin, einen Elefanten oder einen Menschen.

Der Mensch, der an der Spitze dieser Komplexitätspyramide steht, lebt ja vor allem auch dank «tieferen» Lebewesen. Woraus besteht der Mensch überhaupt?

Unser Körper besteht aus etwa 100'000 Milliarden menschlichen Zellen und 10­ bis 20­mal mehr Bakterienzellen. Diese siedeln sich erst nach unserer Geburt auf unseren Körperoberflächen an, vor allem an den inneren Oberfl­ächen wie dem Magen und dem Darm. Es mehren sich die Hinweise, dass diese Bakterien für unser Wohlbefinden sehr wichtig sind. Ähnliches gilt auch für die Viren, die unseren Körper besiedeln, ohne uns krank zu machen.

Der Mensch ist ein Ökosystem, das wahrscheinlich Zehntausende verschiedener Organismen beherbergt und ohne andere Lebewesen wie etwa die Pflanzen nicht überleben könnte. Manche Biologen gehen sogar so weit, das Leben auf unserer Erde als einen einzigen Organismus zu betrachten, in dem alle Teile funktionell zusammenhängen, auch wenn sie nicht physisch miteinander verbunden sind.

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Aussage des National Institutes of Health, NIH, USA: "Epigenetic mechanisms are affected by several factors and processes including development in utero and in childhood, environmental chemicals, drugs and pharmaceuticals, aging, and diet."

Im Originalbeitrag sind 10'000 Milliarden (1013) menschliche Zellen genannt. Mir waren 1014 bekannt, also 100 Billionen. So bat ich Gottfried Schatz um Erklärung, die ich am nächsten Tag erhielt: "Die Zahl von Zellen in unserem Körper schwankt deshalb zwischen 1013 und 1014, weil sie Schätzungen widerspiegelt, deren Fehler im Bereich vom Faktor fünf sind. Es ist also jedem überlassen, ob man aufrunden oder abrunden will. Sie haben jedoch insofern recht, als die Mehrzahl der Angaben die höhere Zahl erwähnt. Sie alle beziehen sich zwar auf eine einzige Schätzung, doch wäre es vielleicht am besten, 1014 für die Zahl der Zellen in unserem Körper, 1013 für die Zahl der Zellen in unserem Gehirn und etwa 1015 bis 2 x 1015 für die Zahl der Bakterienzellen in unserem Körper zu verwenden."

Gab es irgendwann in der Evolution eine Phase, wo der Mensch zum Menschen wurde?

Das hängt davon ab, was man als «Mensch» definiert. Unser Entwicklungsweg war ein viele Millionen Jahre währender Prozess, in dem aus affenähnlichen Vorfahren allmählich immer menschenähnlichere Wesen und schliesslich unsere Spezies Homo sapiens entstanden. Unser Entwicklungsweg trennte sich von dem des Schimpansen vor sieben bis acht Millionen Jahren, wobei wir noch nicht genau wissen, wer unser gemeinsamer Vorfahre war.

Im Verlauf unserer Menschwerdung (EE: siehe auch Hominisation bzw. Anthropogenese, Anthropogenie) vergrösserte sich das Gehirn, die Steinwerkzeuge verbesserten sich, das Feuer wurde gezähmt, und die Entwicklung der Sprache führte zu komplexen Sozialstrukturen. Viele Biologen betrachten die urtümliche Menschenform, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren zum ersten Mal Werkzeuge und Feuer verwendete, als erste Vertreter der Menschengattung Homo.

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Paläontologen haben in Myanmar entdeckt, dass die Vorfahren aller Affen und Menschen von Asien nach Afrika kamen. Gefunden haben sie den Afrasia djijidae, einen zuvor unbekannten Primaten, der vor rund 37 Millionen Jahren lebte.

Was unterscheidet den modernen Menschen von diesen frühen Typen?

Der moderne Mensch Homo sapiens, der zum ersten Mal vor etwa 200'000 Jahren in Afrika auftauchte, hatte ein dreimal so grosses Gehirn wie seine frühesten Vorfahren. Dank überlegener Intelligenz und einer Veränderung der Anatomie seines Rachens (Pharynx) konnte er eine Sprache entwickeln, die ihm nicht nur kollektives Jagen erleichterte, sondern auch die Wissensvermittlung (Wissen) von Eltern zu Kindern ermöglichte. Diese erhöhte Intelligenz wurde wahrscheinlich durch das Auftauchen von neuen Genen angetrieben, die die Bildung und Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn förderten.

Sind diese Genmutationen zufällig entstanden?

Ja. Sie verliehen wahrscheinlich einen Selektionsvorteil, weil es damals in Afrika sehr dramatische Klimaveränderungen gab. Hitze- und Dürreperioden (Dürre) zwangen die Menschen, ihre volle Intelligenz zu verwenden, um zu überleben. Klimakatastrophen haben also die Entwicklung des Menschen gewaltig vorangetrieben.

Karte mit Wanderung von mt-Haplogruppen von Afrika nach Eurasien (aus Sicht von 2015).© CC-by-sa 4.0, Maulucioni / Juschki, Wikipedia

Im positiven Sinn?

Nicht nur. Vor 10'000 bis 20'000 Jahren liess eine gewaltige Katastrophe unsere Spezies ausserhalb Afrikas auf 1'200 Individuen zusammenschrumpfen. Was diese Katastrophe war, wissen wir nicht, aber wir können mit Sicherheit sagen, dass alle Nichtafrikaner von diesem Häufchen Überlebender abstammen. Das erklärt, warum das Erbmaterial (Genom) von Europäern, Chinesen und Koreanern so überraschend einheitlich ist. Selbstverständlich hätte diese Katastrophe allerdings auch das Ende unserer Spezies bedeuten können.

98 Prozent der menschlichen Gene sind identisch mit denjenigen von Menschenaffen. Müssten wir diese Tiere nicht als enge Verwandte achten?

Ganz eindeutig ja. Schon bevor man das Erbmaterial von Menschen und Tieren entzifferte, war es Biologen klar, dass unsere nächsten Verwandten, also vor allem der Schimpanse, der Gorilla oder der Orang-Utan, uns in ihren intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten viel ähnlicher sind, als wir das vermutet hatten. Deshalb ist es heute – mit ganz wenigen und gut begründeten Ausnahmen – verboten, an Menschenaffen Versuche durchzuführen. Wir anerkennen sie als nahe Verwandte, denen wir die ihnen gebührende Würde zuerkennen müssen.

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Die Gattung der Schimpansen gehören die beiden Schwesternarten Gemeiner Schimpanse und der friedfertigere und zierlichere Bonobo an. Die Bonobos sind unsere nächsten Verwandten im Tierreich.

Wikipedia: "Das Europäische Patentamt erteilte ab 2012 die Patente EP1456346 und EP1572862 der Firma Intrexon sowie das Patent EP1409646 der Firma Altor BioScience auf das Erbgut von Schimpansen."

Zumindest Spiegel-Online bringt das noch: Affen-Patent: Tierschützer legen Einspruch ein. Bei Wikipedia ist dieser Eintrag verschwunden! (31.3.16).

Gibt es eine untere Grenze von genetischer Übereinstimmung mit Tieren, ab der es für uns ethisch gerechtfertigt ist, Tiere zu töten-– etwa für die Ernährung?

Man kann diese Frage nicht ein für alle Mal beantworten, weil jede Generation dies aufs Neue tun muss. Ich persönlich finde, dass die unvorstellbar grausame Fabrikaufzucht von Hühnern, Schweinen und Rindern ethisch unverantwortlich und eine Obszönität ersten Ranges ist. Das gilt erst recht für den Walfang.

Für Lebewesen, die weder Schmerz verspüren noch ein Bewusstsein haben, trifft das natürlich nicht zu; ich denke hier an Bakterien, Algen und Insekten. Eine realistische Zukunftsvision wäre es, ein «Fleisch» aus Algen oder anderen Mikroorganismen zu produzieren, das noch besser schmeckt als ein Steak und dabei erst noch gesünder ist und in fast unbeschränkter Menge produziert werden kann.

Sind wir Menschen Lebewesen, die nur genetisch gesteuert sind – oder haben wir auch einen freien Willen?

Wir wissen, dass unsere Gene keine unabänderlichen Gesetze sind, sondern dass wir sie zum Teil durch unser Verhalten verändern können. Einige dieser Veränderungen können sogar vererbt werden. Wir nennen diese Änderungen unserer Gene «epigenetisch». Diese Erkenntnis bedeutet, dass jeder von uns für seine eigenen Gene mitverantwortlich ist.

Heisst das, dass wir die Gene unserer Mitmenschen positiv verändern können, wenn wir diese freundlich und respektvoll behandeln?

Ja. Das schien uns noch vor 20 Jahren völlig unmöglich. Aber letztlich sind wir auch für die Gene von Menschen mitverantwortlich, die von uns abhängen. Wenn wir also Untergebene misshandeln oder Dauerstress aussetzen, könnten wir nicht nur ihren Genen, sondern vielleicht auch denen ihrer Kinder Schaden zufügen.

Wir wissen seit langem, dass Hungerperioden oder andere Stresserlebnisse (Stress) der Eltern im physischen und psychischen Verhalten der Kinder Spuren hinterlassen, selbst wenn diese Kinder erst nach diesen Stressperioden gezeugt wurden und sie nie am eigenen Leib erfahren haben.

3. Redaktion

Auch dieses Interview durch Thomas Buomberger für die Zeitschrift Beobachter hatten wir von Gottfried Schatz erhalten. Der Chefredaktor des Beobachter, Andres Büchi, hat uns ausnahmsweise die Erlaubnis gegeben, den Beitrag bei uns zu veröffentlichen. Erschienen ist der Beitrag am 30. April 2015 im Beobachter 9/2015.

Gottfried Schatz

Gottfried Schatz, geb. 1936, forschte als Biochemiker in den USA und an der Uni Basel, wo er das Biozentrum leitete. Später war er Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierats. Er ist Mitglied wissenschaftlicher Akademien auf der ganzen Welt und erhielt eine Menge von Auszeichnungen, die wir im Beitrag Sinn des Lebens unten etwas ausführlicher erwähnen.

Thomas Buomberger

Thomas Buomberger, geb. 1952 in Winterthur, studierte auf dem zweiten Bildungsweg Geschichte, Publizistik und englische Literatur an der Universität Zürich (Abschluss mit Dissertation). 1984 bis 1997 war er als Redaktor beim Schweizer Fernsehen. Seit 2001 ist er als freier Journalist und Autor tätig und publizierte als Autor und Herausgeber mehrere Bücher. Zudem war er Initiant und Koordinator der Ausstellung „14/18 – Die Schweiz und der Grosse Krieg“.

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